Kamikaze
Jamila, 5 Jahre alt, sieht mich durch die Halle kommen. „Iwant“, ruft sie und rast auf mich zu.
International werden solch drohende Kollisionen durch Aufheben und Herum- schwenken des sich nähernden Objekts abgefangen. Als ich Jamila wieder auf die Füße gestellt habe, sehe ich Ali, 16 Monate alt, Bruder von Jamila und eher ein zurückhaltendes Kind.
Er grinst und rennt los. Als ich ihn wieder auf die Füße gestellt habe, blickt er sich nach seiner Schwester um. Sie flitzt gerade aus der großen Schlafhalle. Ali hinterher, durch die sich langsam schließende, schwere Turnhallen- tür. Ich hinterher. Oh nein, Achtung auf die Finger, den Kopf, die Zehen! Geschafft! Über den Flur. Durch die näch- ste zufallende Tür in die kleine Halle. Wieder geschafft!
Durch die kleine Halle. Auf der Kante des Tisches am Stromkasten dampft ein Wasserkocher. Daneben sitzt Mohammed und bearbeitet sein Handy. Ich rufe!
Ali biegt ab, landet bei Mama. Mohammed stellt den Wasserkocher weiter zurück.
Iwant, Turnhalle, 10.05.2016
Schutzengel
Tag 5 in der Notunterkunft:“Iwant!“
Huda stürzt auf mich zu, ihr jüngstes Kind Ali, gerade ein Jahr,in ihren Armen.
Ali ist blau angelaufen,krampft, schnappt nach Luft.
Verdammt! Blitzgedanken: Weiter Atmen! Wie war das nochmal mit der Reanimation von Kleinkindern?
Martin, ein Kinderkrankenpfleger auf seinem ersten Erkundungsgangdurch die Halle, bereit uns ehrenamtlich zu unter- stützen, ist plötzlichneben mir.
Er nimmt der Mutter das bewusstlos werdende Kind aus dem Arm,packt es auf das obere Bett und beginnt mit Beatmung undHerzmassage.Kurze Zeit später ist das Kind wieder da, erbricht sich.Zwischen- zeitlich habe ich mit der Feuerwehr tele- foniert, bin in denSanitätsraum gelaufen, um Kochsalzlösung zu holen. Sehe Martin mitden Rettungssanitätern hantieren, habe Huda getröstet.
Keine Ahnung, was wann war!
Ali ist aus dem Krankenhaus zurück, gesund und munter. Martin hat unser Leben ge- rettet und ist jetzt deshalb für unsverant- wortlich! Er kommt immer noch regelmäßig!
Iwant, Notunterkunft, 10.01.2016
Forscher
Ali, 16 Monate, im Kinderraum. Ali räumt konzentriert Duplosteine aus der Kiste ins Spülbecken der Dinder-küche.
Die Kinderbetreuerin, die zum Aufräumen am Ende der Spielzeit aufgerufen hat, zeigt ihm, dass die Duplosteine zurück in die Kiste geräumt werden sollen. Ali reagiert nicht, er ist beschäftigt: Die zusammen steckenden Duplosteine müssen hoch- konzentriert vereinzelt werden, Stück für Stück!
Iwant, Turnhalle, 25.05.2016
Große Sachen
Eine Familie, drei Erwachsene, vier Kinder im Alter zwischen ca. 4 und 9 Jahren sitzen auf zwei Bierbänken in der Nähe der Essensausgabe in einem Speisesaal mit ca. 80 Leuten. Die ganze Familie isst Reis mit Gemüse und Huhn aus sogenannten Alu-Menüschalen mit sehr fragilen Plastikgabeln. Alufolie ist auf dem Tisch verteilt. Raschelgeräusche.
Direkt hinter dem Tisch steht ein riesiger Müllcontainer auf Rädern, mit Schiebedeckel. Er ist von solch einer Größe, wie sie eigentlich nur in Hinterhöfen, nicht aber in Esszimmern zu finden ist. Die Kinder sollen das „Geschirr“ in den Müll werfen. Sie kommen nicht hoch und werfen mehrmals in Richtung des großen Müllmauls. Essensreste fallen herunter.
Ein kleines Mädchen (?), ca. zwei Jahre, steht in der Nähe und hantiert ruhig mit einem großen Hullahupp-Reifen während es sich im Saal umblickt. Es ist, als würde das Spiel seine Beobachtung unterstützen. Oder als würden sich diese beiden Tätigkeiten hervorragend ergänzen. Der Reifen ist etwas größer als das Mädchen. Es dreht ihn, wie einen Äquator um sich herum. Es steigt hindurch. Es guckt hindurch. Es steht darin. Es hebt ihn sich über den Kopf. Alles nahezu in Zeitlupe, immer mit dem Blick im wuseligen Speisesaal umherstreifend. Das Mädchen wirkt besonnen und konzentriert; ganz bei sich und doch im Raum, in der Welt. Ich denke: wenn es nur weiterhin so leicht für sie wäre, die eigene Perspektive und die eigenen Möglich-keiten im Leben zu verändern. Die Varianten zu erforschen, wie sie sich zu ihrer Umgebungins Verhältnis setzen kann.
Mng, Notunterkunft, Juni 2016
Musik und andere Klänge
Zwei Erwachsene, die Musik einmal wöchentlich in der Notunterkunft Musik anbieten, haben die Kinder im wahrsten Sinne des Wortes zusammen-getrommelt, etwa 15 Kinder im Alter von 2 bis 12 Jahren sind gekommen und zeigen Neugier und Vorfreude. Ein Klatschspiel, ein Lied. Um den Kreis herum einige Eltern oder Verwandte, in freundlich abwartender unterstützender Haltung.
Zwei Kinder, ca. 3 Jahre alt, kommen immer wieder angerannt und schlagen einer Begleiterin des Musik-teams auf den Hintern. Ziemlich fest. Lachen dabei, eher kreischend als lustig. Werden schließlich von der Mutter zurückgehalten und weggebracht.
Nach 10 Minuten „Anwärmen“ geht das Musikteam mit den ab 6-jährigen Kindern und den Instrumenten in einen anderen Raum. Die Jüngeren bleiben zurück. Eines weint so stark und laut, dass der Vater es kaum beruhigen kann. Es streckt den Arm in Richtung Tür und Schwester, die mit den Instrumenten und den älteren Kindern mitgehen durfte.
Mng, Notunterkunft, Juni 2016
Alltag mit dem Feueralarm
Während meiner ehrenamtlichen Arbeit in einer Flüchtlingsunterkunft habe ich schon mehrmals Feueralarm mitbekommen. Anscheinend ist es so, dass sofort die Feuerwehr alarmiert wird, wenn zwei Rauchmelder Alarm geben.
Eine Person vom Wachschutz berichtete mir, dass die Bewohner_innen schon gar nicht mehr reagieren, weil es bereits so oft vorkam, dass die Feuerwehr umsonst kommen musste. Während eines Feueralarms in der Flüchtlingsunterkunft kommen nur etwa 30 Leute aus dem Haus von etwa 250. Immer wieder werden die Menschen aufgefordert, rauszukommen, aber die meisten schauen nur aus dem Fenster.
Mich hat es sehr erschüttert wie wenig die Menschen reagierten auf das laute und grelle Geräusch des Feueralarms. Ich selbst musste mir die Ohren zu halten und aus dem Gebäude laufen. Einige Kinder schrien und sahen sehr verzweifelt aus, klammerten sich an ihre Eltern. Eine Mutter berichtet mir, dass sie als Familie schon mehrere Male nachts das Gebäude umsonst verlassen mussten.
Als die Feuerwehr eintraf, ging nur ein Feuerwehrmann in das Haus. Er war sofort umringt von Kindern, die ihn toll fanden, in seiner Feuerwehrmannuniform. Mit den Kindern im Anhang betrat er das Haus, um nachzuschauen ob es wirklich irgendwo brannte.
Ich hoffe sehr, dass es nie ein echtes Feuer in der Flüchtlingsunterkunft gibt!
Orng, Sammelunterkunft 2016
Warm werden im Spiel
ihrem Büro. Ich hatte mich angemeldet. Es war verabredet, dass ich im ‚Kinderzimmer’ ein kleines Spielangebot für junge Kinder gestalten werde. Eine Sozialassistentin wird gleich erscheinen und mich zu diesem Raum bringen.
Von ihr erfahre ich, für wen sie alles zuständig ist, 80 Kinder im Alter 0-18 Jahre. Mit einer halben Stelle. Natürlich freut sie sich über Unterstützung. Während wir den Flur entlang laufen, klappert ihr dicker Schlüsselbund und sie erzählt mir aus wie vielen Ländern die Bewohner hierher gekommen sind.
Während wir reden, begegnen uns bereits neugierige Augen hier und da. Vereinzelte Kinder und Mütter warten bereits im Flur, drücken sich vor ihren Zimmertüren herum, lächeln mich an. Die Sozial- assistentin schließt den Kinderraum auf. Er ist kalt und dunkel. Es riecht muffig. Die Roll-Läden sind heruntergelassen, die Heizungen ausgestellt. „Wird gleich warm werden!“ Kaum habe ich meine Sachen ausgebreitet, sind schon acht Kinder im Alter zwischen 5 und 12 Jahren um den Tisch versammelt. Hinter jedem zweiten Kind steht eine Mutter, meist mit Handy in der Hand. Die Verbindung zur Heimat. Zwei kommen aus Syrien, soweit ich mich erinnere, die anderen sind Roma aus dem Kosovo.
Einige Mütter geben ihren Kindern Anweisung sich anständig zu benehmen, die anderen schauen mich voller Erwartung an oder nicken mir freundlich doch zurückhaltend zu. Ich sage meinen Namen, frage nach den Kindernamen und versuche sie mir zu merken. Bin überrascht, dass einige schon etwas deutsch sprechen. Ich packe ein Spiel aus, für das man kaum Worte braucht. Ein Mädchen links von mir, ca. 6 Jahre, ist sehr still und ernst, sie blickt vorwiegend auf den Tisch. Die anderen voller Neugier, Schalk und Temperament. Sie verstehen schnell, worum es geht. Die Tischplatte ist kalt, wir spielen sie warm. Die Mütter verfolgen das Spiel mit Spannung, versuchen mitzudenken. Immer wieder geben sie ihren Kindern Tipps, möchten dass sie alles richtig oder gar am besten machen, feuern sie an, als gäbe es etwas zu gewinnen. Wir haben viel Spaß. Mir ist dennoch kalt, ich würde am liebsten meine Daunenjacke wieder anziehen. Schließlich zeige ich noch ein anderes Spiel, eines mit Bewegung, auf dem Teppich im hinteren Teil des vielleicht 20qm großen Raumes. Endlich wird uns warm. Wir verrenken uns und ge- stikulieren … Körpersprache funktioniert, wie immer, am besten. Es geht darum die Tätigkeiten, die auf Fotokarten abgebildet sind, nachzuahmen. Die Kinder können gar nicht aufhören, sind voll bei der Sache, ihre Mütter inzwischen verschwunden.
Als ich mich nach zwei Stunden verabschiede, dreht die Sozialassistentin die Heizungen wieder zu, lässt die Roll- Läden herunter und verschließt den Raum zwei Mal mit ihrem Schlüssel.
Mng, Notunterkunft, Februar 2015
Spielzeugfreie Zeit
Vier Kinder zwischen 2 und 5 Jahren spielen mit einem Karton. Er ist Auto, Höhle und vermutlich einiges mehr.
Es gibt keinen Streit. Alle haben Spaß. Ich fahre nach Hause. Am nächsten Tag finde ich den Karton oder was davon übrig ist. Ich bringe ihn schmunzelnd in den Müll.
Iwant, Turnhalle, 08.05.2016
Messer
Sara, zweieinhalb, läuft durch die Halle, ein Küchenmesser in ihrer Hand. Erwachsene nehmen es ihr ab.
Die Eltern werden gesucht,sind aber nicht aufzufinden.
Daria, 7 Jahre alt, sollte auf die beiden jüngeren Geschwister aufpassen.
Iwant, Turnhalle, 15.03.2016
„Kannst du deutsch?“
Mir fiel das Trio schon von Weitem auf. Ein Vater, um den zwei sehrzierliche kleine Mädchen herumwuselten, geschätzte drei und fünf Jahre alt. Die Jüngere saß auf seinen Schultern und zappelte mit den Beinen.
Die Ältere hielt ihren Papa an irgend einem Jackenzipfel und hüpfte neben ihm her. Er war ebenfalls unruhig. Er hatte einen Zettel in der rechten Hand und sein Handy in der linken und blickte suchend mal auf das Blatt, mal auf das Display, mal in die Umgebung. An der Ampel kamen wir nebeneinander zum Stehen und ich bot Orientierungshilfe an. Er sprach englisch mit mir. Gemeinsam fanden wir heraus, in welche Richtung er musste – es war die Adresse einer Beratungsstelle.
Die Mädchen musterten mich dabei voller Neugier. Sie hatten Gesichter, die mir erwachsen erschienen. Kleine, erwachsene, schmale Kindergesichter. Ich bin mir unsicher, ob es hilfreich oder störend ist, zu schreiben wie dürftig sie gekleidet waren. Aber es fiel mir so auf. Es war kalt. Die Kleider irgendwie etwas zu klein und etwas zu dünn. Doch diese aufmerksamen Augen! Wir lachten einander an. Im nächsten Moment schoss es voller Kraft aus dem Mund des älteren Mädchens: „KANNST DU DEUTSCH? ICH KANN DEUTSCH! ICH KANN DEUTSCH!“ Und ich war perplex und freute mich mit ihr und wechselte ein paar Worte „WIE GEHT ES DIR?“ „GUT!“ „WIE HEISST DU?“ etc. Diese Freude! Dieser Stolz! Ich applaudierte mit Worten und konnte mich nicht so schnell losreißen, obwohl ich es eilig hatte. Auch der Vater strahlte mich nun an und ich fragte ihn, woher sie ihr Deutsch hätte. „School! Shelearnsschool!“ Ich staunte, denn dann musste sie doch schon sechs Jahre alt sein. Und ich bemerkte seinen plötzlich sorgenvollen Gesichtsausdruck. Was war mit der Schule? Es schien, als wollte er es erklären, aber er hatte die Worte nicht.
Warum schreibe ich diese kurze Begegnung auf?
Wegen der Kraft und der Freude dieses Mädchens, das mich fragt, ob ich deutsch kann. Die Art, wie sie sagte „ICH KANN DEUTSCH!“ hatte so etwas Elementares, etwas Existentielles. Es war, als hieltesie einen einzigartigen goldenen Schlüssel hoch. Habe ich das hinein interpretiert? Oder hat sie verstanden, wie wichtig ihr Lernen für ihren Vater, ihre Familie ist?
Die letzten Tage musste ich noch oft an dieses Mädchen denken. Ich wünsche ihr, dass sie und ihre Schwester noch viele „goldene Schlüssel“ hochhalten können und dabei in der Berliner Bildungslandschaft rundum Unterstützung und Anerkennung erfahren.
Mng, Auf der Straße, 24.03.2016
Dabeisein
In der gemütlichen Lobby aus ge- schenkten Stilmixmöbeln sitzen Menschen mit und ohne Asyl von jugendlich bis etwas älter. An meinem Nebentisch ein Gast aus München, der sich offensichtlich lange überlegt hat, wie er den sehr dunkelhäutigen, kaffeetrinkenden, am Smartphone wischenden jungen Mann neben ihm ansprechen könnte.
„Where you from?“ ist schließlich die Lösung und Losung des Münchners. „Na, ich bin aus Berlin, ich besuch hier nur’n Kumpel!“ antwortet der junge Mann prompt und strahlt seinen verblüfften Gastkollegen an. Doch die eigentliche Be(ob)achtung ist die:
Während ich dort sitze und Zeitung lese und mich später lange mit einer der Mitarbeiterinnen des Hauses unterhalte, schlawenzeln immer wieder Kinder jeglichen Alters herein und heraus.
Sie gehen an den Tresen und schmieren sich eigenständig eine Stulle (das ist die beliebteste Ecke am Tresen, wo man das kann – falls möglich gegen Spende). Sie kugeln auf dem Sofa herum. Sie schäkern mit den anwesenden Erwachsenen oder sitzen am Boden und spielen mit Karten.
Ich frage die Mitarbeiterin, ob es hier denn keinen Kinderraum gibt. Sie antwortet sinngemäß: Ja, das hatten wir mal. Aber die Kinder wollen ja lieber überall mit dabei sein. Und eine ständige Kinderbetreuung im Extraraum könnten wir uns zurzeit ohnehin nicht leisten. Deshalb haben wir erstmal beschlossen, dass sie überall willkommen sind. Und dass jeder für sie zuständig ist, der ihnen begegnet. Scheint zu klappen : )
Mng, Hotel für Gäste mit und ohne Asyl, Juli 2016
Übers Meer
Endlich der wohlverdiente Urlaub. Ich sitze urlaubsmäßig gut ausgestattet im Zug nach Dänemark und freu mich auf eine Woche Yoga am Meer.
Rasch bemerke ich, dass irgendetwas anders ist in diesem Abteil. Es gibt zwei Familien, die keine Reservierungen hatten und sich deshalb auf alle möglichen Sitze verteilt haben. Sie verständigen sich arabisch über die Rückenlehnen und durch den Gang hinweg. Nicht so oft, aber wenn dann irgendwie angespannt, leise und eindringlich.
Neben mir kommt ein syrischer Vater zu sitzen, er nimmt seine zwei Söhne, ca. 6 und 8 Jahre alt, auf den Schoß, wir kommen in Kontakt. Ich mache Fingerspiele mit seinen Söhnen. Er spricht sehr gut Englisch und erzählt mir die (Vor)Geschichte seiner Flucht und seine Dankbarkeit Schweden gegenüber, wo er unkompliziert aufgenommen und dafür gesorgt wurde, dass Frau und Kinder nun gefahrlos per Flug nachreisen konnten.
Später sitzen die drei auf anderen Plätzen, die frei geworden sind und neben mir nimmt eine für meine Begriffe äthiopisch aussehende Mutter mit ihrer strahlenden, schäkernden etwa 1,5 Jahre alten Tochter Platz. Die Mutter nickt mir zu, wirkt scheu und kraftlos. Sie spricht kein Englisch, ich kommuniziere und spiele mit dem kontaktfreudigen Kind. Es hat ein Goldkettchen um den Hals, eins ums Handgelenk, kleine goldene Ohrringe und Haarspängchen. Als hätten es die Verwandten für die gefährliche Reise nach Europa mit Gold segnen und überschütten wollen.
Der Vater von vorhin hat mir von dieser Familie erzählt. Sie sind erst vor wenigen Tagen übers Meer gekommen. Hatten zwischendurch kaum Hoffnung die italienische Küste zu erreichen. Können jetzt, aus Gründen die ich nicht kenne, zu Bekannten nach Schweden weiterreisen. Der Kontakt mit dem strahlenden Goldmädchen und der ‚Kaumkontakt‘ zu seiner erschöpften Mutter prägen sich mir tief ein. Mit welcher Wucht, das merke ich erst viel später. Die ersten Tage im Yogaurlaub bin ich in finsterer und ratloser Verfassung. Ich hatte lange keinen Urlaub, aber kann ihn nun nicht genießen. Kann das Meer nicht sehen. Habe hautnah erlebt, was das Meer für Menschen sein kann: Die Todeszone.
Der Gedanke geht mir nicht aus dem Kopf, dass dieses strahlende Mädchen genauso gut, wie viele andere, tot am Strand oder auf dem Meeresgrund liegen könnte. Ich kann es nicht begreifen, dass Menschen dieses Sterben in Kauf nehmen, seit Monaten und Jahren werden uns einfach Totenzahlen genannt. Trotz Satelitenüberwachung, Frontex und Co.
Als ich zurück in Berlin bin, weiß ich, dass ich etwas tun muss. Mein Engagement bei Willkommen KONKRET hängt unmittelbar mit diesem Mädchen und seiner Mutter zusammen.
Mng, im Zug, Juli 2014
Achtung Bagger
Die Turnmatten sind in den Gängen zwischen den Schlafquartieren verteilt. Kinder jeglichen Alters probieren sich mit Akrobatik und erhalten dabei Unterstützung von einigen Zirkus- pädagog_innen. Erwachsene sitzen auf den zu Sofas umfunktionierten Betten neben der Mattenbahn.
Einige Kinder unter drei hocken einfach auf dem Boden und bestaunen die Turbulenzen. Mich faszinieren die gute Stimmung und die rege gegenseitige Anteilnahme. Ermunternde Zurufe gehen auf Arabisch hin und her. Sie klingen mir wie „Guck mal!“ „Ja, weiter so!“ „Willst du auch mal?“. Die Zirkusleute unterstützen auf Englisch und Deutsch.
Plötzlich kommt ein großer gelber Bagger um die Ecke, kommt im Schritttempo angefahren, nimmt den ganzen Gang ein.
Ich erschrecke und bin tief beeindruckt. Mir ist tatsächlich, als würde mir mal eben ein Dinosaurier begegnen und wenn ich nicht irre, blieb mir tatsächlich der Mund offen stehen.
Die Kinder jedoch scheinen nicht einmal erstaunt zu sein. „Achtung Bagger!“ sagt einer der Pädagogen. Alle Beteiligten räumen im Nu sämtliche Matten und Zubehör auf die Seite … wenige Momente später wieder zurück und machen weiter als wäre nichts gewesen.
Mng, Notunterkunft / Halle, Juni 2016
Familie sein in der Sammelunterkunft
Familie S. aus Syrien kam vor anderthalb Jahren nach Berlin. Die Kinder sind heute drei, sechs, acht und neun Jahre alt. Vor drei Monaten kam das jüngste Kind auf die Welt. Die Familie kam in Deutschland zunächst in eine Erstaufnahme.
Dort verbrachte sie ungefähr sechs Monate. Sie wurde dann in eine andere Sammelunterkunft überwiesen. Bei ihrer Ankunft demonstrierten Menschen lautstark vor dem Haus. Mehrere Wochen war die Sammelunterkunft belagert und den Geflüchteten war nicht klar, wer für wen war.
Die Familien verfügen über abge- schlossene Wohneinheiten. Die Küche liegt zwischen zwei Zimmern. Eltern und Baby schlafen in dem einen Raum, die vier anderen Kinder teilen sich das zweite Zimmer. In der Küche oder in den anderen Zimmern ist nicht genügend Platz, dass alle Familienmitglieder zusammen an einem Tisch sitzen können. Die Küche hat nur eine kleine Arbeitsfläche und so ist es schwierig, für sechs Personen zu kochen. Wenn gekocht wird, verteilen sich die Essensgerüche und Feuchtigkeit in die anderen beiden Wohnräume. Am Nachmittag müssen in diesen zwei Räumen das Mittagessen gegessen und Hausaufgaben erledigt werden. Daneben schläft das Baby oder muss versorgt werden. Die Wände zu den Nachbarn sind sehr dünn, so dass Gespräche der Nachbarn hörbar sind. Sommerliche Hitze lässt die Kinder nachts kaum schlafen. Auch im Winter sind die Räume überhitzt, da eine individuelle Regelung der Heizung nicht möglich ist.
Die beiden älteren Kinder besuchen die Schule und lernen schnell Deutsch. Für die Eltern startet ein Integrationskurs erst nach einem Jahr. Es ist sehr schwierig, einen Platz zu bekommen, weil viele Kurse überbelegt sind. Meist kommunizieren die Eltern mit den Mitarbeiter_innen des Heims auf Englisch. Da die Mitarbeiterschaft stark fluktuiert, kommt es immer wieder vor, dass keiner der Mitarbeiter_innen Englisch sprechen kann und so die Kommunikation sehr erschwert ist. So kommt das älteste Kind des fteren in die Lage für die Mutter oder den Vater zu übersetzen. Simple Dinge wie eine Entschuldigung für die Schule wegen eines Arztbesuches müssen von den Sozialarbeiter_innen geschrieben werden, da die Eltern dies nicht können.
Seit der Geburt des Babys geht die Mutter nicht mehr zu ihrem Deutschkurs. Die Mutter bedauert das sehr, da sie merkt, dass alle anderen Familienmitglieder Fortschritte beim Erlernen der deutschen Sprache machen. Die Mutter berichtet, dass es ihr sehr schwer fällt, ihre Kinder bei den Hausaufgaben zu unterstützen, da ihre Deutschkenntnisse dafür nicht ausreichen. Daher ist sie immer erleichtert, wenn ihre Kinder mit ehrenamtlichen Helfer_innen Hausaufgaben machen können. Die Hausaufgabenhilfe ist auf ehrenamtlicher Basis organisiert.
Die Kinder im Alter von drei und sechs Jahren besuchen eine Kindertagesstätte. Die Plätze hat der Vater nach langer Suche gefunden. Dies ist eine Ausnahme in der Sammelunterkunft. Etwa 55 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren besuchen keine Kita. Es gibt ein»Kinderzimmer« in dieser Sammelunterkunft, das von zwei hierfür nicht ausgebildeten Mitarbeiter_innen geleitet wird. Zwischenzeitlich war das Zimmer mehrere Monate geschlossen, da ein_e der beiden Mitarbeiter_innen krank war.
Die Mutter sorgt sich, dass ihre Kinder in der Kita nicht genügend gefördert werden. Sie berichtete immer wieder, dass sie dort „nur spielen“ würden. Und dass sie Angst habe, dass ihre Kinder dann nicht in der Schule mitkommen würden. Deswegen übt die Mutter immer wieder mit ihren Kindern das Schreiben und Lesen in Deutsch. Die Verständigung zwischen Mutter und Kita gestaltet sich schwierig, da die Mutter nur Arabisch und Englisch spricht, die Erzieher_innen hingegen nur Deutsch. So muss immer eine Person gefunden werden, die übersetzen kann. Als das Baby geboren wurde, mussten die Eltern nachts ins Krankenhaus. Die Nachbarin in der Flüchtlingsunterkunft erklärte sich bereit, auf die vier anderen Kinder aufzupassen. Ansonsten hätten die vier Kinder mit ins Krankenhaus gehen müssen. In der Woche nach der Geburt kochte die Nachbarin für die Familie. Sehr traurig berichtet die Mutter, dass normalerweise ihre Mutter und ihre Schwester helfen würden, aber hier in Deutschland gäbe es keine Person, die sie so unterstützen könnte. Sie erzählt auch, wie sehr sie es vermisst, mit Freunden und Bekannten einfach mal Tee zu trinken und zu quatschen. Es gäbe kaum jemanden, der einfach mal spontan vorbei kommt.
Seit einem dreiviertel Jahr sucht die Familie eine Wohnung. Es ist sehr schwierig, in Berlin eine Wohnung für sieben Personen zu finden.
Nur in so einer kurzen Darstellung über das Leben dieser Familie, zeigt sich wie kompliziert und auch anstrengend der Start in Deutschland ist.
Orng, Sammelunterkunft 2016
Was, Zimmerkontrolle?
Ich besuche eine Familie Flüchtlingsunterkunft. Die Familie erzählt mir, dass die Zimmer der Bewohner_innen auf Sauberkeit kontrolliert werden, darüber wird auch Protokoll geführt. Den Menschen wird erzählt, dass sie ihr Zimmer öffnen müssen für diese Kontrollen.
Hier berichtet die Familie, dass sie sich sehr unwohl fühlt, wenn Mitarbeiterinnen in ihren Privatraum eindringen. Ständig besteht das Gefühl beobachtet zu werden. Nie gibt es einen Raum in den man sich zurück ziehen kann. Die Kinder der Familie erzählen mir, dass sie den Hausmeister nicht mögen und es nicht verstehen warum er immer in ihr Zimmer schauen möchte.
Ein_e andere ehrenamtliche Mitarbeiter_in berichtet: „Der Hausmeister der Unterkunft hat scheinbar jederzeit das Recht dazu, die Wohnungen der Bewohner_innen zu besichtigen, um zu sehen, ob es dort „ordentlich“ ist. Er klopft an die Wohnungstür und wenn keiner öffnet, darf er auch aufschließen.
Ich bin sehr verwundert und kann mir einfach nicht vorstellen, dass diese Zimmerkontrollen … erlaubt sind?
Orng, Sammelunterkunft 2016
Die eingereichten Kinder-Be-Merkzettel als Download
Infos zu den Kinder-Be-Merkzetteln